Eberling: Etwa ein 1/3 aller Einwohner Deutschlands wird direkt befragt


(sw) Zwei engagierte Studierende haben zusammen mit dem SDS.MLU eine Veranstaltung zum Thema „Volkszählung 2011“ organisiert und dazu Michael Eberling vom AK Vorrat und AK Zensus eingeladen. Die etwa 50 Teilnehmer/innen erfuhren im ersten Teil etwas über Volkszählungen in Deutschland im 20. Jahrhundert. Von der „Kriegszählung“ 1917 über die zwei Volkszählungen 1933 und 1939 im „Dritten Reich“, um Menschen jüdischen Glaubens genau zu erfassen. Bis zur gescheiterten Volkszählung im Jahr 1983.
Dazu existiert das BVerG-Urteil vom 15.12.1983. Diese wurde dann 1987 nachgeholt und erfährt nun 2011 eine Neuauflage. In der DDR verlief die letzte Volkszählung übrigens im Jahr 1981.
Die Erhebung wird vor allem damit begründet, dass die Daten zu alt und zu ungenau seien. Zudem seien sie für die Infrastruktur notwendig – bspw. für die Anzahl der Kindergärten, die genaue Zuschneidung der Wahlkreise oder das gewisse Finanzausgleichszahlungen getätigt bzw. erhalten werden können. Außerdem ist auch die sozialwiss. Forschung sehr daran interessiert, dass möglichst genaue und umfangreiche Daten erhoben werden und somit für die Forschung zugänglich gemacht werden.
Im nächsten Teil ging es um die rechtlichen Grundlagen. Angefangen vom Bundesstatistikgesetz von 1953 über eine EG-Verordnung von 2008, indem alle EU-Staaten für 2011 angewiesen werden, eine Volkszählung durchzuführen und dies dann im zehn Jahrestakt zu wiederholen. 2009 wurde dann noch in der Großen Koalition das Zensusgesetz erlassen. Die Klage des AK Zensus gegen dieses Gesetz wurde, so betont Eberling, aus formellen Gründen vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt; nicht aus inhaltlichen Gründen. Das damit das Scheitern umso ärgerlicher und bitterer für die Aktivist/innen war, brauchte Eberling nicht erst noch sagen.
Im wichtigsten Teil des Vortrags ging es um den Ablauf und die Kritik am Zensus. Dabei wird als erster Schritt eine Zusammenführung der Daten aus verschiedenen Quellen durchgeführt. So werden die Bundesagentur für Arbeit, Meldeämter, Ent- und Versorgungsbetrieben, Finanzbehörden und weitere Quellen befragt und deren Daten gesammelt; zum Anschriften- und Gebäuderegister „AGR“. Die Löschung der Daten erfolgt spätestens 2017.
Dabei gibt es drei Fragebögen: Der erste geht an alle Wohnungs- und Wohngebäudebesitzer/innen und wird per Post versendet. Das betrifft in etwa 17 Mio. Menschen. Der zweite geht an etwa 10 Prozent der Bevölkerung und beinhaltet dabei drei Fragen, die zusätzlich zur EG-Verordnung, erfragt werden. Einmal der Migrationshintergrund seit 1955 und nicht wie die EG vorgibt seit 1979. Zusätzlich wird noch nach dem Migrationshintergrund der Eltern gefragt. Außerdem wird nach der Religion und den Weltanschauungen der Menschen gefragt, welche jedoch freiwillig angegeben werden können. Bezeichnenderweise wird „nur“ nach dem christlichen Glaube gefragt, während beim Islam nach „Sunniten, Schiiten, Alewiten, etc.“ gefragt wird. Trotz der Freiwilligkeit dieser Angaben vermutet Eberling, dass viele lieber alles ankreuzen als sich „verdächtigt zu machen“ – wer hat den schon was zu verbergen? Oder vielleicht mancht mensch sich gerade verdächtig, weil sie/er nichts ankreuzt.
Der dritte Fragebogen geht an sogenannte „Sonderbereiche“ wie Studi-Wohnheime, Gefängnisse, Psychiatrien, Behindertenheime, Notunterkünfte für Obdachlose, usw. Alle Bewohner/innen werden darin erfasst bzw. die Verwalter/innen müssen dann Angaben machen – ohne(!!) die Bewohner/innen in Kenntnis zu setzen.
Zudem werden von allen Einwohner/innen Deutschlands Daten von der Bundesagentur für Arbeit, und sogar dreimal (01.11.10 ; 09.05.11 ; 09.08.11) die Daten der Melde- und Bürgerämtern ausgelesen. Zudem wird auch bei Beamt/innen und Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nochmal eine extra Datenabgleich durchgeführt.
Die zentralen Kritikpunkte sind, so Eberling schließlich, erstens die mangelnde Information und Aufklärung. So wurde am 01.11.2010 zum ersten Mal von allen Einwohner/innen die Daten der Melde- und/oder Bürgerämter ausgelesen und in die AGR eingeführt. Zweitens werden jeder/m Bürger/in eine Ordnungsnummer zugeordnet und damit ist die Anonymisierung der Daten eher schwach. Drittens ist auch die Befragung der Sonderbereiche sehr kritisch zu sehen, da dort Vollerhebungen durchgeführt werden. Durch die Einrichtung einer Mega-Datenbank gibt es viertens gewisse IT-Risiken und Begehrlichkeiten bzw. Ausnutzungen von dritter Seite. Fünftens explodieren die Kosten und das Geld hätte sinnvoller verwendet werden können. Sechstens gibt es eine Auskunftspflicht und bei nicht-nachkommen droht ein Bußgeld von bis zu 5.000 Euro.
Die rege (An-)Teilnahme an der Veranstaltung hat gezeigt, dass Datenschutz kein „Orchideenthema“ ist, was nur „Nerds“ und Computerspezialist/innen etwas angehe. Aufgrund der Digitalisierung des eigenen Lebens, sind gerade junge Menschen sehr vorsichtig geworden, was die Angabe von persönlichen Daten angeht. Die Europäische Union und in unserem Fall die Bundesregierung missachten diese Bedenken und obwohl alle Parteien seit der Gründung der Piratenpartei auf Datenschutz angeblich viel Wert liegen, zeigt die die Volkszählung 2011, wie leichtfertigt mit Daten umgegangen wird und wie wenig über das konkrete Vorgehen berichtet wird. Dies passt jedoch zur schwarz-gelben Regierung, die schließlich einen „mündigen Bürger“ als Idealbild hat, der sich selbstbestimmt um alles kümmert – wer das nicht macht, hat halt Pech gehabt, oder?!

 Michael Eberling gehört der Gruppe von Volkszählungs-Bedenkenträger (AK Zensus) an. Dieser hat sich auf einem CCC-Kongreß im Mai 2010 zusammengefunden und agiert unter dem Dach des AK Vorratsdatenspeicherung. Die offizielle Webseite des AK Zensus ist www.zensus11.de und die persönliche Seite von Michael Eberling ist www.vobo11.de .

Kommentare

  1. Ich habe eine ganz persönliche Meinung zu der Kritik an Volkszählungen u.ä.: Wie sollen nach Meinung dieser Kritiker Volkszählungen besser ablaufen? Ich nehme mal an, dass die Notwendigkeit von Volkszählungen in gewissen zeitlichen Abständen (ca. alle 20 Jahre) für politische Entscheidungen, Planungen, für Sozialwissenschaftler und andere Institutionen nicht bestritten wird. Sicherlich wird da eine Menge Daten angesammelt und diese Daten sollten natürlich auf keinen Fall für wirtschatliche oder andere Zwecke missbraucht werden - da bin ich natürlich kein Gegner des Datenschutzes. Aber gab es denn schon jemals negative Folgen für Teilnehmer an Volkszählungen, die eine soumfassende Kritik des Mikrozensus etc. rechtfertigen? Mir fehlen da immer die Alternativen. Vielleicht haben die Referenten auch dazu etwas gesagt?

    Viele Grüße, Stefan D.

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  2. Hallo Stefan D.,

    entschuldige die späte Antwort auf deine mehr oder weniger direkte Frage zur Volkszählung.
    Der Referent hat dazu explizit nichts gesagt, aber die Kritikpunkte, die oben genannt sind, beziehen sich auf die derzeitig laufende Volkszählung. Eine Volkszählung wird demnach nicht rundweg abgelehnt. Die Umsetzung ist sehr zweifelhaft und mutet teilweise sehr bizarr an und kann deshalb durchaus Konsequenzen haben; bspw. für "Papierlose" oder für Menschen die in Untersuchungshaft sitzen und damit in den Sonderbereich zählen (wie Herr Kachelmann gar) aber (noch) nicht verurteilt sind... Vgl. hierzu auch das wiki des AK Zensus unter: http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Volksz%C3%A4hlung
    Zudem erscheint in den "Blättern für dt. und int. Politik" in der nächsten Ausgabe ein Artikel zur "Volkszählung im Verborgenen", der auch nochmal die Risiken gut aufzeigt.

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