Fundstück der 35.Kalenderwoche

Als vor 20 Jahren, in der Woche vom 17. bis 22. September 1991, Steine und Brandflaschen auf die Unterkünfte von VertragsarbeiterInnen und Asylsuchenden in Hoyerswerda flogen, haben viele BürgerInnen applaudiert. Angeheizt durch die Berichterstattung in den regionalen Medien begannen am 17. September die Angriffe nach einer Auseinandersetzung auf einem Wochenmarkt von etwa 15 Nazis mit Menschen vietnamesischer Herkunft, welche Zigaretten verkauften.
Die Betroffenen flüchteten in das VertragsarbeiterInnenwohnheim, wobei sich einige der BewohnerInnen legitimerweise gegen die Nazis wehrten, welche nun vor dem Haus standen. Im Laufe der folgenden fünf Tage belagerten mehrere hundert Menschen die Wohnheime, skandierten „Deutschland den Deutschen - Ausländer raus“ und versetzten die BewohnerInnen in Angst und Schrecken. Die Polizei sah sich nicht im Stande, diese Angriffe zu beenden. Sämtliche Menschen aus den Unterkünften mussten evakuiert werden und wurden als deren Folge zur „freiwilligen Ausreise“ nach Frankfurt am Main geschafft oder fanden Zuflucht im Kirchenasyl bzw. bei autonomen Gruppen in Berlin. Der rassistische Mob hatte gesiegt.

Hoyerswerda wurde zu einer Hochburg der Nazis. Nach dem die VertragsarbeiterInnen und Asylsuchenden vertrieben waren, richtete sich die Gewalt der Rechten gegen die, welche offen links oder alternativ auftraten: ein besetztes Haus, der linksalternative Jugendclub „Laden“, das Umweltzentrum und die Grünen wurden regelmäßig angegriffen. Ihren traurigen Höhepunkt fand die Gewalt der Nazis in und um Hoyerswerda in zwei Morden. Im Oktober 1992 provozierten sie DiskobesucherInnen in Geierswalde bei Hoyerswerda mit rassistischen Parolen. Als die Nazis daraufhin ausgebuht wurden, reagierten sie mit Gewalt. Mit drei Schlägen mit einer Holzlatte tötete dabei ein 17-jähriger Waltraud Scheffler, die in der Diskothek als Kellnerin arbeitete. Nur wenige Monate später griffen im Februar 1993 Nazis mit dem Ruf „Schlagt die Zecken tot!“ eine alternative Party in Hoyerswerda an. Sie schlugen Mike Zerna nieder und kippten einen Transporter auf ihn. Der 22-jährige verstarb an seinen Verletzungen.

Das rassistische Pogrom von Hoyerswerda war der Auftakt zu einer ganzen Reihe rassistischer Übergriffe, die sich z.B. in Rostock-Lichtenhagen, Solingen oder Mölln ereigneten. Nicht zu schweigen von den unzähligen Opfern faschistischer Gewalt seit 1990 wie Jorge Gomondai aus Dresden, Silvio Meier aus Berlin oder Alberto Adriano aus Dessau. In Folge der Angriffe wurde 1993 das Grundrecht auf Asyl aus Art. 16 GG praktisch abgeschafft – der Asylkompromiss wurde getragen von allen im Bundestag vertretenen Fraktionen, außer den (kleineren) Fraktionen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/Die Grünen. Der Hass auf der Straße manifestierte sich in Gesetzesform und wirkt bis heute nach.

15 Jahre nach den Ereignissen im Herbst 1991 erinnerte irgendwo in Hoyerswerda eine Stele mit der Aufschrift „im Gedenken an die extremistischen Ausschreitungen“ an diese Tage. Doch in Hoyerswerda wüteten eben nicht nur Anhänger der vermeintlichen „extremen Rechten“. Vor den Heimen der ehem. VertragsarbeiterInnen und Asylsuchenden tobte ein rechter BürgerInnenmob, bestehend aus Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Darunter jene, die sich als Neonazis verstanden, aber eben auch „ganz normale Deutsche“: NachbarInnen und KollegInnen. Die Schuldabwehr der Stadt damals und heute ist allgegenwärtig, die Aufarbeitung der Geschehnisse steht immer noch am Anfang. Ein erster Schritt kann damit getan werden die Dinge beim Namen zu nennen: was im September 1991 geschah, sollte klar als rassistisches Pogrom bezeichnet werden.

Die “Initiative Pogrom 91” wird in einem Vortrag am 6.09.2011 ab 19.00 Uhr in der Reil78 in Halle (Saale) die damaligen Ereignisse noch einmal Revue passieren lassen und sich kritisch mit der vorherrschenden Gedenkpolitik der Stadt auseinandersetzen. Außerdem soll auch auf die Aktivitäten anlässlich des 20. Jahrestages der Pogrome aufmerksam gemacht werden. Anschließend ist eine Vorführung der beiden Filme “Das Hoyerswerda Syndrom" (1996, ca. 52min) und „Viele habe ich erkannt -Gedächtnisprotokoll eines mosambikanischen Kontraktarbeiters aus Hoyerswerda" (1992, 25 min) geplant, in der vor allem die Betroffenen von damals zu Wort kommen.


http://pogrom91.tumblr.com/dokumentation - Dokumentationsarchiv der Gruppe „Pogrom 91“ zu den Geschehnissen im September 1991 und deren nachfolgender Rezeption

http://www.cafemorgenland.net/archiv/20 ... werda.html - Text der Gruppe „Café Morgenland“ zum 20.Jahrestag des rassistischen Pogroms in Hoyerswerda

http://pogrom91.tumblr.com/post/8729935 ... rax-hoeren - Interview der Gruppe „Pogrom 91“ bei Radio Corax

http://www.podcast.de/episode/860587/17_Hoyerswerda -Beitrag von Leona Frommelt für das “Kalenderblatt” der Deutschen Welle zum 17. September 1991

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