Erfahrungsbericht vom „Occupy Berlin“-Aktionstag

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(sw) Am 15.10. fand in Berlin eine Demonstration statt. An diesem weltweiten Aktionstag gingen hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen die aktuellen Entwicklungen im neoliberalen Kapitalismus, z. B. im Banken- und Finanzsektor, zu protestieren.
Entgegen der Erwartungen der Demonstrationsanmelderin, die mit 350 Teilnehmer_innen rechnete, kamen mehr als 5000 Menschen. Die globalisierungskritische Organisation Attac sprach
sogar von 8000 bis 10.000 Anwesenden. Die eher kurze Route vom Alexanderplatz über Unter den Linden hin zum Bundeskanzleramt wurde von vielen Schaulustigen begleitet. Besonders viel auf, wie heterogen die Demo war. Angeführt vom Transpi „Für die soziale Revolution weltweit“ gingen Alt und Jung, Linke-Aktivist_innen und Bürgerliche, Studierende und Lohnempfänger_innen auf die Straße. Sprüche wie „Staat, Nation, Kapital … SCHEIßE“, „Brecht die Macht der Banken und Konzerne“, „Nicht Nation gegen Nation, nicht Rasse gegen Rasse. Für uns gibt es nur: Klasse gegen Klasse“ und weitere Slogans sorgten für Stimmung.
Kurz vor Schluss wich der Anfang der Demo-Teilnehmer_innen von der Route ab und rannte zu den Treppen des Reichstages/Bundestages, wo sie einzelne Sperrgitter der Polizei entfernten. Die Polizist_innen, scheinbar überrascht von dieser Aktion und zahlenmäßig weit unterlegen setzen recht schnell Tränengas ein und griffen stellenweise zu Gewalt, um die Aktivist_innen zurückzuhalten. Dabei muss festgehalten werden. Die Beteiligten sind selbst zum Stehen gekommen und haben nur vereinzelt versucht bis zu den Treppen des Reichstages zu kommen. Die überwiegende Mehrheit blieb nicht nur stehen bei den Gittern, sondern auch vollkommen friedlich - ein Zustand, der für den gesamten Zeitraum gilt (ich habe nie Steine oder Flaschen gegen Polizist_innen werfen gesehen). Nachdem sich relativ schnell eine „Sitzversammlung“ herausbildete, wurde nach Vorbild der „occupy-Wall Street“-Bewegung eine „Versammlung“ abgehalten, Arbeitsgruppen und ein Moderationsteam gebildet.
Die 600 bis 800 Anwesenden der „Versammlung“ organisierten recht schnell eine VoKü und Zelte, was jedoch bei der Polizei dazuführte, dass sie immer wieder in die Menschenmasse ging, um gewaltvoll die Zelte zu entfernen, im Verlaufe des Abends wurde auch die VoKü beschlagnahmt. Einzelne Teilnehmer_innen wurde dabei festgenommen und/oder verletzt. Es ging der Polizei demnach um die Symbolik, Zelte bzw. ein Lager vor dem Reichstag zu errichten unbedingt verhindert werden sollten. Dabei wurde teils brutal und rücksichtslos gegen Anwesende vorgegangen. Die Anwesenden riefen daraufhin „Frieden den Zelten, Krieg den Palästen“ und „This is what Democracy looks like“! Später am Abend wurde den Teilnehmer_innen auch Sitzgelegenheiten wie Isomatten, Decken und Kissen genommen. Hier ging es demnach gezielt gegen die Infrastruktur der Anwesenden, um den Aufenthalt so ungemütlich wie möglich zu machen, Interessierte abzuschrecken und die Versammlung „auszutrocknen“. Auch die Unterstützung der Presse war anfänglich sehr mager und erst zum Ende hin, waren einige Presseleute anwesend, wurden aber teilweise von Polizist_innen stark bedrängt und in ihrer Pressefreiheit eingeschränkt. Schließlich wurde gegen 23 Uhr die Räumung des Platzes vor dem Reichstag durch die Polizei veranlasst, welche sich aber bis weit nach Mitternacht hinzog; nicht ohne massiven Einsatz von BFE und deren schlagenden und gepfefferten Argumenten. Vor allem die sog. „Bannmeile“ um das Parlamentsgebäude wurde von Polizist_innen immer wieder als Grund genannt, weshalb eine Duldung der Anwesenden nicht möglich sei und eine Räumung früher oder später vollzogen werden musste.
Ob die Bewegung, die sich heute mittag/nachmittag neu formiert hat, um über das weitere Vorgehen zu diskutieren, von Dauer ist und welche Möglichkeiten vorhanden sind, bleibt derzeit offen. Zumindest ist für morgen (Mo, 17.10.) ein nächstes Treffen 15 Uhr angesetzt. Gerade aber das Beispiel Frankfurt a. M. wo rund 20 Zelte vorerst geduldet werden, sowie die globalen Proteste von London bis nach Sydney, scheinen Ansporn genug zu sein, um es auch in Berlin zu probieren, den Protest auf Dauer etablieren.


Links:
http://occupyreichstag.blogsport.de/ (Blog vom Geschehen in Berlin)
http://occupyberlin.wordpress.com/ (2. Blog dazu)
http://de.indymedia.org/2011/10/318117.shtml (erster Bericht von Indymedia)
http://de.indymedia.org/2011/10/318119.shtml (ausführlicher Bericht mit zahlreichen weiteren Verlinkungen zu Fotos von dem Aktionstag)
http://www.livestream.com/undergroundreports (Livestream aus Berlin mit einigen Videos)
http://www.youtube.com/watch?v=Eb26NhGh_cU (sehr gut gemachtes Video zur Demo)
http://www.youtube.com/user/KiekeMaFilm ... bHKu4oSXIo (Einsatz der Polizei gegen das erste Zelt vor dem Reichstag)
http://www.youtube.com/watch?v=jrJ08Uq7aK4 (Video zum Ausbruch Richtung Reichstag)
http://de.wikipedia.org/wiki/Bannmeile (Wikipedia-Eintrag zur "Bannmeile")

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