Fundstück der Woche: Von der Diktatur zur Demokratie
Gene Sharp: Von der Diktatur zur Demokratie – Ein Leitfaden für die
Befreiung
Gene Sharp ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler,
der als Experte auf dem Feld des gewaltfreien Widerstandes und zivilen
Ungehorsams gilt. Er wurde besonders durch seinen Einsatz für die Demokratiebewegung
in Myanmar bekannt. Zur Unterstützung dieser schrieb er auch sein 1993
veröffentlichtes „Von der Diktatur zur Demokratie – Ein Leitfaden für die
Befreiung“. Dieses Werk fasst in aller Kürze die wichtigsten Grundlagen solcher
Aktionen zusammen. Es will ein „Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktaturen“
– und damit das 1x1 des politischen Widerstandes sein.
Neben allerhand Überlegungen zu Stärken und Schwächen von
Diktaturen, zur besten Strategie des Widerstandes im jeweiligen Kontext sowie
zum Aufbau einer dauerhaften Demokratie, findet man ebenso einen 200 Punkte
umfassenden Katalog mit Methoden des gewaltlosen Widerstandes. Ob nun „härter
und länger arbeiten als gefordert“ zum Sturz einer Diktatur beiträgt, sei einmal
dahingestellt. Die schiere Anzahl der Aktionsformen ist aber überwältigend. Manche
von ihnen liegen nahe, wie etwa Generalstreiks oder öffentliche Reden – für die
bewusste Überlastung der öffentlichen Einrichtungen und Verwaltung oder „kollektives
Verschwinden“ benötigt es jedoch mehr Kreativität. Auch kann man die
Legitimität von z.B. Sozialboykott oder psychologischen Schikanen in Frage
stellen. Sharp empfiehlt jedenfalls, sich aus all den Optionen eine innovative,
an die Situation angepasste Aktionsstrategie zusammenzustellen.
Was hat das nun aber alles mit uns zu tun? Wir leben ja in
keiner Diktatur, die wir stürzen müssen, sondern seit mittlerweile fast 70
Jahren in einer stabilen Demokratie – Ostdeutschland seit 25 Jahren – und es
hat sich ja offenbar von eben einer Diktatur befreit. Das kann man so sehen.
Man kann es aber auch so sehen, dass wir in einer Diktatur von Gewinnstreben
und Profitlogik leben – und nicht nur das, sondern vielmehr in einer Diktatur
des ungezügelten, von jeglicher Humanität losgelösten, unzählige Menschen
unterdrückenden Kapitalismus. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem
Menschenleben ohne Weiteres gegen Profit aufgerechnet werden, das Hin- und
Herschieben virtueller Zahlen reale Armut verursacht und selbst der letzte Teil
der Gesellschaft ökonomisiert werden muss. Es wäre also schon Zeit für eine
Befreiung.
Gehen wir aber vorerst wieder einen Schritt zurück: zu
Sharp. Es finden sich viele wichtige Punkte in seinen Ausführungen. Da ist
beispielsweise die Notwendigkeit einer evidenten Vision zur Mobilisierung breiter
Massen – oder auch die zwingende Organisation in nichtpolitischen zivilen
Vereinen – und sogar der Aufruf, nicht mit den diktatorischen Mächten zu
verhandeln, da diese so nur verlorengegangene Legitimität wiedererlangen können.
Ferner betont er, dass keine revolutionäre Avantgarde der Basis Vorschriften
machen darf oder sogar gegen diese agieren. Dass außerdem der politische
Widerstand nicht allzu sehr vom geregelten Leben des Einzelnen abweichen
sollte, zeigt vor allem, wie sehr sich Sharp auf praktische Aktionen
konzentriert. Der wichtigste Ratschlag ist es aber, die „systemimmanenten
Achillesfersen bewusst auszunutzen und zu verstärken, um so das System radikal
zu verändern“.
Bewegen wir uns also von Sharp weg und fragen danach, was
eine solche Achillesferse sein kann. In Bezug auf den entgrenzten Kapitalismus
müssen wir uns die Frage stellen, wo denn die Wurzel liegt. Ist es etwa eine
globale Verschwörung des Bösen? Mitnichten. Es wird wohl kaum jemand ausfindig
zu machen sein, der*die für die Schieflagen in der Welt verantwortlich ist – so
wie es Verschwörungtheoretiker*innen gern tun. Ist es nicht vielmehr so, dass der*die
Einzige ohnmächtig ist? Sind wir nicht alle nur kleine Rädchen in einer
ungeheuer komplexen Welt, die geprägt ist, von uns bestimmenden Zwängen?
So unterliegt die Politik jedenfalls weithin Sachzwängen.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Viele das Gefühl haben, mit ihrer
Stimme ohnehin nichts verändern zu können. „Die machen doch alle nur dasselbe“
– eine Stammtischparole, in der viel Wahrheit steckt. Und der*die Topmanager*in
eines multinationalen Unternehmens? Er*sie unterliegt wahrscheinlich
vergleichbaren Zwängen. Wenn der zentrale Auftrag ist, Gewinn zu
erwirtschaften, spielen moralische Überlegungen nur noch eine stark
untergeordnete Rolle. Denn nur ein einziger Zwang bestimmt letztlich die
kapitalistische Wirtschaft unseren Typs: Profitmaximierung.
Damit wären wir also bei der systemimmanenten Logik
angelangt, die gleichzeitig die Achillesferse sein könnte. Der unbändige,
stupide Zwang zur Profitmaximierung scheint die Schwäche des modernen Gesellschaftssystems
zu sein. Folgt man Sharp, gilt es diese ausnutzen. Aber wie? Metaphorisch
gesprochen, würde der Kapitalismus auch noch freigiebig das Seil verkaufen,
womit man ihn aufhängt. Was jedoch besagtes Seil praktisch ist, bleibt vorerst
eine offene Frage.
Gene Sharp. Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. Verlag C.H.Beck. 2008.
Gene Sharp. Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. Verlag C.H.Beck. 2008.
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