Die Schorre und die Arbeiter*innenbewegung

Die Schorre, auf derem ehemaligen Gelände nun Baumfällungen und Abrissarbeiten anstehen, ist ein historischer Ort. Vom 12.–18. Oktober 1890 fand der Reichsparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) dort statt, wobei die Einrichtung damals “Hofjäger” hieß. Berühmt ist der Parteitag, weil die SPD dort ihren Namen erhielt - von der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) hin zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Auch wenn es heute aufgrund der gewählten Namen anders wirkt, war das allerdings kein Rechts-, sondern vielmehr ein Linksrutsch. Denn in der SAP, die 1869 aus einer Vereinigung des sozialreformerischen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) von 1863 und der marxistischen Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) entstand, herrschte ein moralisch aufgeladener Kurs vor, der ein Mehr an staatlicher Planung und an Verteilungsgerechtigkeit zur Hoffnung sozialistischer Politik erklärte, sich die Kapitalismuskritik aber weitestgehend sparte.
Mit der Umbenennung in SPD und den Parteitagen in Halle und ein Jahr später in Erfurt, wo auch das marxistisch geprägte Erfurter Programm beschlossen wurde, setzte sich eine klassenkämpferische Perspektive durch, die das Zentrum der Partei um Wilhelm Liebknecht und August Bebel mit dem linken Flügel um Rosa Luxemburg verband und zu einer Oppositionsarbeit führte, die sich gegen jede Form von Unterdrückung richtete - die Militärherrschaft in Elsass-Lothringen wurde harsch kritisiert, die Kolonialverbrechen der Deutschen blieben genauso wenig vor Kritik verschont wie die Ausbeutung in den Fabriken im Ruhrgebiet und die Unterdrückung der Arbeiter*innenpartei und der Gewerkschaften. Letztlich ging die sozialistische Bewegung 1890 gestärkt aus der Verfolgung durch die “Sozialistengesetze” hervor und schaffte die Ausgangsbedingungen dafür, dass es 1918 zur sozialistischen Novemberrevolution kommen konnte. Nur musste diese Revolution vom Proletariat gegen die SPD durchgesetzt werden.
Denn trotz hervorragender Programme hat die Partei im Moment der Bewährung versagt. Hier ist vor allem die Kriegspolitik zu nennen, die von der gewissenlosen und reaktionären Bande rund um Friedrich Ebert durchgesetzt wurde, während es für die antikommunistischen Morde der Freikorps, die von Ebert befohlen wurden, dann schon eine breitere Unterstützung gab. Letztlich ist dieser Entfremdungsprozess einer sozialistischen Partei vom Sozialismus weitergegangen und hatte mit Willy Brandt in der Koalitionsregierung mit dem NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, ein weiterer sollte mit der Aufrüstungspolitik vom ehemaligen Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt folgen und auch die “Agenda2010” unter Schröder sowie die Verarmungspolitik des ersten schwarz-roten Merkel-Kabinetts hat noch einen Platz als Meilenstein auf dem Weg nach rechts verdient. Mit dem Hamburger Programm vom Bundesparteitag im Jahr 2007 folgt die SPD der Abkehr von ihrer Tradition dann auch theoretisch, wobei das immer ein nachholender Prozess ist.
Während es im Erfurter Programm von 1891 zurecht heißt:

“Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter – Kapitalisten, Großgrundbesitzer – in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.”

heißt es 2007 ganz offen:

“Leistung muss anerkannt und respektiert werden. Gerecht ist eine der Leistung angemessene Verteilung von Einkommen und Vermögen. Eigentum verpflichtet: Wer überdurchschnittlich verdient, mehr Vermögen besitzt als andere, muss auch mehr zum Wohl der Gesellschaft beitragen.”

Aus dem “nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums” könne die Gesellschaft nachhaltig verbessern, ist das Leistungsprinzip geworden, was natürlich nicht wirklich der Idee folgt, die eigene Leistung unbedingt honorieren zu wollen, sondern eine Legitimation für Ungleichheit darstellt – sowie es die Leistungsideologie stets tut.
Wir sehen also: Mit dem Kurs von Halle und Erfurt hat das nichts mehr zu tun. Tatsächlich waren zwar entsprechende Probleme (Anpassung an die kapitalistische Normalität, angebliche Sachzwänge, Verschieben der Revolution und Passivität) auch damals schon angelegt, aber sie waren bei den Parteitagen in einer krassen Minderheitenposition. Und auch Ultra-Reformer*innen wie Eduard Bernstein, die das Minimalprogramm (z.B. Verbot der Kinderarbeit) gegen die Perspektive einer Revolution in Anschlag bringen wollten und damit Vorarbeit für das spätere Versagen leisteten, fanden sich nach der Machtübernahme der Ebert-Militarist*innen ab 1914 außerhalb der Partei und in der USPD wieder. Es ist also richtig zu sagen, dass die SPD ab 1914 graduell immer weniger mit dem zu tun hatte, was sich 1890 in der späteren Schorre abgespielt hat.
In diesem Sinne lehnen wir den positiven Bezug der Partei auf den historischen Ort ab und kritisieren diesen, aber kritisieren gleichzeitig die Zerstörung des Ortes der Arbeiter*innenbewegung durch die “Quarterback Immobilien AG”, die dort vermutlich hochpreisige Wohnungen einrichten will. Damit bestätigt die investierende AG übrigens zwei Tendenzen des Erfurter Programms: Zum einen wird deutlich, dass es für eine gute Stadtentwicklung die Vergesellschaftung von “Grund und Boden”, wie von allen anderen Formen des Privateigentums auch, braucht.
Denn es ist ja genau der Drang zur Profitmaximierung, der dazu führt, dass der vorher bestehende Club dicht machen muss und für ein Projekt für altersgerechtes Wohnen weichen muss. Und es auch kein Zufall, dass die ersten zehn Jahre, seitdem die Stadt das Gelände verkauft hat, überhaupt nichts passiert ist, dann im allgemeinen Immobilien-Boom die Leipziger Firma zugeschlagen hat, danach drei Jahre wieder nichts passiert ist und und nun doch gebaut werden soll – die Rendite wird die Wartezeit sicherlich entschädigen und dafür sorgen, dass das “altersgerechte” Wohnen bestimmt nicht sozial gerecht wird.
Das entspricht der Tendenz, dass die Mischnutzung unserer Stadtviertel immer mehr abnimmt: Spätis, Clubs, Freizeiteinrichtungen können nicht die Mieten bringen, die die Entwicklung zur Wohnimmobilie versprechen – also wird lieber teuer gewohnt als verkauft oder gefeiert. Das ist schon deshalb ein Problem, weil die Innenstädte dadurch zu Wüsten werden – wer nur wohnen kann, nutzt irgendwann die letzten verbliebenen Angebote aus der Nachbarschaft nicht mehr und beschwert sich tendenziell lieber über den Lärm von Jugendlichen, die in Ermangelung anderer Gelegenheiten auf öffentlichen Plätzen feiern und das auch in diesem Sommer wieder tun werden. Das Ende dieser Stadtentwicklung finden wir in Städten wie Hamburg, Berlin oder Leipzig: Es gibt eine angebliche attraktive Einkaufs-Innenstadt rund um die Fußgängerzone, in der sich teure Geschäft aneinanderreihen, die dann um 20 Uhr spätestens schließen und die kommenden zwölf Stunden Platz für gähnende Leere machen. Das ist bereits die offene Wunschvorstellung vieler Politiker*innen und Planer*innen für den Leipziger Boulevard in Halle, die Euro-Shops und Döner-Läden sind diesen ein Dorn im Auge – auch mit dem Zukunftszentrum möchte man die Gegend entwickeln, inklusive höherer Mietpreise. Aber es geht noch weiter: Während die Reichen früher aus den Städten geflohen sind, kommen sie nun zurück: Rings um den Einkaufsbereich der Innenstadt liegen Büros und Wohnungen, die niemand bezahlen kann – auch hier gilt: Wenn nachts niemand mehr in den Büros ist, wird dieser Teil zum Wasteland. Natürlich gibt es dann noch Viertel (oder “Kieze”), die sich irgendwie halten, da sich dort alles konzentriert, was man machen kann: Schanzenviertel, Kreuzberg oder Connewitz werden zwar immer teurer, aber halten sich als letzte städtische Elemente – auch dank überregionaler Bedeutung. In Halle werden wir diese Phase wohl überspringen und direkt dazu übergehen, etwa das Paulusviertel und die südliche Innenstadt als reine Wohngegenden zu haben.
Die Alternative zu dieser Perspektive auf Ödnis und Verzweiflung in leeren, aber umso teureren Städten, die einen Hauptteil ihrer Ressourcen dafür aufbringen, Jugendliche von einem Ort zum anderen zu treiben, ist der Sozialismus. Wie schon im Hofjäger bzw. der Schorre besprochen und beschlossen, ist das die einzige Möglichkeit, der gnadenlosen Profitlogik zu entgehen – es braucht die Vergesellschaftung von Grund und Boden und aller Produktionsmittel. Das öffentliche Eigentum über die Rekommunalisierung ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben keine dauerhafte Lösung, wie der Verkauf durch den Stadtrat zeigt, den wir kritisieren. Wer sich also auf die Tradition der Schorre beruft, sollte sich auch auf die Konsequenzen daraus besinnen und die Unvereinbarkeit von Privateigentum und kapitalistischer Produktionsweise anerkennen:

“Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.” (Erfurter Programm / 1891)

“Die Anwesenheit der ausländischen Genossen beweist uns, dass das Wort von Karl Marx zur Wahrheit geworden ist, dass die Proletarier aller Länder seinem Mahnwort gemäß sich vereinigt haben, und dass sie gewillt und bereit sind, je nach den Verhältnissen ihrer Länder, in gemeinsamer Arbeit die geschichtliche Mission der Arbeiterklasse zu erfüllen, dass sie erkämpfen wollen die Befreiung der Menschheit aus den Banden der Unwissenheit, aus dem Joch der Armut, aus der Sklaverei des Lohnsystems!” (vom ersten Verhandlungstag des Parteitags von Halle / 1890)

Bildquelle: Reise Reise / via Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/]

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