Wo ist die industrielle Reservearmee?

Vollbeschäftigung heißt im Kapitalismus, dass nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung arbeitslos ist. Dieser relativ kleine Teil der Bevölkerung geht zwar in die Millionen, wird allerdings nicht mehr als politisches Problem definiert. Was als zu bekämpfende Arbeitslosigkeit gilt und was nicht, ist also eine Setzung und folgt keiner festen volkswirtschaftlichen Logik. Das sehen wir schon im sogenannten „Wirtschaftswunder“ der frühen BRD. Am Anfang waren 0,8% Erwerbslose ein Ausdruck von Vollbeschäftigung, dann waren es 2%, danach waren es auch mal 5%. Für die einzelnen Personen macht es nicht wirklich einen Unterschied, ob sie mit vielen anderen arbeitslos sind oder nicht – und für Staat und Kapital offensichtlich auch nicht, weil es nie das Ziel gewesen ist, wirklich alle in Arbeit zu bringen. Genauso wie es theoretisch jede*r nach oben schaffen kann, aber eben nicht alle.

Karl Marx hat das Heer der Erwerbslosen als „industrielle Reservearmee“ bezeichnet, welche systemimmanent sei, da die verschiedenen Kapitalien in Konkurrenz zueinander stehen und stets bei der Ware Arbeitskraft sparen, da die anderen Kosten im Vergleich dazu feststehend sind und weiter steigen. Im Rahmen der Automatisierung wird etwa immer mehr von Maschinen übernommen, wobei die Kosten dafür steigen, was einen größeren Teil der Gesamtkosten unflexibel macht und den Druck auf den flexiblen Posten, also die Ware Arbeitskraft, erhöht. Statt die tendenziell sinkenden benötigten Arbeitsstunden aber unter den Arbeiter*innen aufzuteilen, wird die Zahl der Arbeiter*innen reduziert. Die stets angestrebte Produktivitätssteigerung führt also dazu, dass immer wieder Arbeiter*innen entlassen werden, die dann woanders eine Anstellung finden – oder eben nicht. Natürlich kommen auch Schwankungen durch die allgemeine Konkurrenz hinzu, etwa durch den Bankrott von Geschäften oder durch Verlagerungen des Standortes.

Wie systemimmanent das ist, sieht man nicht nur daran, dass die Politik Arbeitslosigkeit grundsätzlich begrüßt, sondern auch daran, dass es als etwas völlig Natürliches angesehen wird, wenn es zu „betriebsbedingten Kündigungen“ kommt. Aus dieser (falschen) Perspektive findet auch die gesamte KI- und Automatisierungsdebatte statt. Während sich einige einbilden, die Befreiung der Menschen käme durch das Ende der Arbeitskraft an sich bestimmt von selbst, denken sich wieder andere neue Lohnarbeitsmodelle aus, um den Kapitalismus auch in einer möglichen Zukunft in seiner bestehenden Form bloß  zu erhalten.

Mit der Diskussion rund um den „Fachkräftemangel“ tritt parallel zur Angst vor dem „überflüssigen Arbeiter*innen“ jetzt noch die Furcht auf, nicht genug Arbeiter*innen zu haben, was erst einmal widersprüchlich wirkt, aber eigentlich zusammen gehört. Das sehen wir perfekt an einem Artikel der „Mitteldeutschen Zeitung“, der die Frage stellte, warum es ca. 80.000 Erwerbslose und rund 45.000 offene Stellen gäbe. Die im Artikel zitierten Unternehmer*innen wussten darauf zwei Antworten: Einerseits seien die Erwerbslosen nicht qualifiziert genug, könnten also gar nicht in den gerade freien Berufen arbeiten. Andererseits seien – so sagt es etwa die Bernburger Fischhändlerin Ivonne Gutzeit, die auch in Halle auf dem Markt einen Wagen betreibt – die Erwerbslosen mit ihrem Bürgergeld zufrieden. Deshalb sieht sie, nach eigener Aussage, den Grundsatz des allgemeinen Arbeitszwangs verletzt („Doch wer arbeiten kann, der sollte auch arbeiten.“). 

An beiden Argumenten sehen wir, wie der „Fachkräftemangel“ zum Fortbestehen der industriellen Reservearmee passt: Es geht nicht wirklich darum, alle in Lohn und Brot zu kriegen oder darum, dass es einfach nicht genug verfügbare Arbeitskraft gäbe – es gibt vielmehr nicht die passförmigste und in der Konkurrenz stehende Arbeitskraft, die die Seite der Unternehmer*innen sich wünscht. Durch die weitgehende Gewährleistung des Überlebens durch das Bürgergeld und die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwählen, muss nicht mehr jeder Job zwangsläufig genommen werden. Weniger Optionen haben nur diejenigen, in deren Ausbildung investiert werden müsste – aber hier sind dieselben Firmen, die sich über mangelnde Interessent*innen beschweren, in den seltensten Fällen bereit, selbst Ausbildungsplätze anzubieten und die Auszubildenden nicht für einen Hungerlohn zu bezahlen. Auch die Politik, die den Fachkräftemangel bitterlich beklagt, investiert nahezu nichts in die Schulen, um die enorm hohe Quote an Schulabbrecher*innen zu reduzieren. Auch die Hochschulen bleiben weit hinter ihren Möglichkeiten zurück – in der Lehrer*innenbildung wie mit dem Umgang mit ihren eigenen Abbrecher*innen. Und es ist immer wieder belegt worden, dass verfügbare, hochqualifizierte Bewerber*innen mit Migrationsgeschichte einfach deshalb nicht genommen werden, weil dem Ressentiments der Einstellenden entgegenstehen.

Es gäbe, insbesondere in einer vernünftiger eingerichteten Gesellschaft also genug Menschen, um jede anstehende Aufgabe zu bewältigen. Und es gäbe jetzt sogar die Möglichkeit, allen Arbeiter*innen die Möglichkeit zu geben, die ausgedünnte „Reservearmee“ zu verlassen. Aber das ist nicht gewünscht. Stattdessen wartet man auf der Kapitalseite darauf, dass die Politik neue Rekrut*innen besorgt. Entweder soll das durch Zwang passieren, der die Menschen letztlich die Suche nach besseren Arbeitsbedingungen endgültig vergessen lässt und sie damit attraktiver macht oder durch das Anwerben von Fachkräften, was aufgrund der rassistischen Ausgrenzung, die Deutschland in nicht unwesentlichen Teilen prägt, offensichtlich schwierig bleibt. Das Scheitern dieses Ansatzes vergrößert den Druck auf die anderen, die von Erwerbslosen, die nicht erwünscht sind, zu Erwerbslosen werden sollen, die beliebig gegen diejenigen austauschbar sind, die derzeit ihre Arbeitskraft verkaufen und dann in die Erwerbslosigkeit kommen. Deshalb setzt die Regierung verstärkt auf „biopolitische“ Ertüchtigung, was nichts anderes bedeutet, als die alle verfügbaren Einwohner*innen zur Arbeit zwingen zu wollen, was auch Hubertus Heils Austeilen gegen angebliche „Totalverweigerer*innen“ erklärt, welches die 100%-Sanktion durch die Hintertür wieder an den Start bringen soll. Einige müssen als Abschreckung leiden, damit andere eine Konkurrenz darstellen und das Kapital sich die Ware Arbeitskraft aus einem breit aufgestellten und reich bestückten Regal herauskaufen kann. Das ist das Ziel, wenn der Fachkräftemangel bekämpft werden soll.

Als Sozialist*innen widersprechen wir also der Behauptung vom Fachkräftemangel und lehnen es strikt ab, die Vergrößerung der industriellen Reservearmee zu unserem Anliegen zu machen. Für die Linkspartei gilt es, nicht auch noch mit in den Chor derjenigen einzustimmen, die die Grundlage für härtere Maßnahmen gegen u.a. Erwerbslose schaffen. Stattdessen muss gemeinsam mit den Gewerkschaften genutzt werden, dass manche Kapitalien keine allzu freie Wahl mehr haben, von wem sie ihre Arbeitskraft beziehen können. Das muss Grundlage für eine Strategie sein, die Reallohnverluste endlich aufzuhalten und umzukehren sowie die Demokratisierung der Betriebe wieder auf die Tagesordnung zu setzen!


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