Soziale Unsicherheit und Überwachung: Sozialdemokratische Handschrift im Sicherheitspaket der Ampel?

Die soziale Krise wird ausgesessen. Auf Twitter freuen sich Funktionär*innen der Grünen zwar über die sinkende Inflation, aber vergessen dabei, dass sich viele die Preise auf dem hohen Niveau sowieso nicht leisten können. Die SPD betont den starken Staat, aber Sozial- und Bildungskürzungen sind weiterhin im Bundeshaushalt für das nächste Jahr vorgesehen, Sanktionen beim Bürgergeld werden auf 100% gesetzt und das Budget für die Unterstützung wird währenddessen gesenkt. Die FDP ist als Teil der Regierung völlig überflüssig und tut schon so, als würde sie mit einer rechten CDU regieren – während die Wähler*innen in Massen zur AfD gehen.

Letztlich stehen die Regierung und der Staat, der durch sie theoretisch gelenkt werden soll, ziemlich blank da. Es wird genau dort gekürzt, wo Menschen eine Möglichkeit hätten, positiv etwas mitzubekommen. Aber es wird nicht überall gekürzt: Neben Rüstung ist auch die sogenannte innere Sicherheit der Bereich, der am Besten abschneidet. Bundeswehr und BKA können sich angesichts steigender Budgets nicht beklagen. Und auch sonst hängt sich die Politik ins Zeug: Mit dem Programm der “Kriegstüchtigkeit” bekommt man endlich die notwendige Aufmerksamkeit für das Militär und mit dem Vorschlag für ein “Sicherheitspaket” will die Ampel der Polizei umfangreiche Befugnisse für fast alles geben.

Kurzum: Es sind gute Zeiten im öffentlichen Dienst, zumindest wenn man General*in oder Polizeipräsident*in ist und nicht Sozialarbeiter*in. Das wirft die Frage auf: Gibt es nun einen starken oder einen schwachen Staat? August Bebel, bis heute Galionsfigur der Sozialdemokratie und bis zu seinem Tod 1913 sozialistischer Abgeordneter, Theoretiker und praktischer Organisator, schrieb im Jahr 1879 dazu das Folgende: “Je weniger die Staatsgewalt durch ihre Organisation die Massen leitet, umso mehr muss es die Religion, die Kirche tun. Daher scheint überall die Bourgeoisie dort am frömmsten, wo die Staatsgewalt am laxesten ist.” Natürlich hat die Kirche ihre stabilisierende Funktion weitgehend eingebüßt. Aber die Logik ist dieselbe: Wo der Staat dabei versagt, das Zusammenleben der Menschen durch Arbeit, Sozialleistungen und Investitionen zu regeln, dann wird das Korsett eben noch mehr mit höherer Gewalt zusammengehalten. Aus dem Kontext der Schrift “Die Frau und der Sozialismus” (Kapitel 29) ist klar, dass Bebel sich mit der “Staatsgewalt” nicht auf Polizei und Militär bezieht, sondern die “laxen” Staaten meint, die wenige öffentliche Einrichtungen und wenig staatliche Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Gesellschaft nehmen und das entsprechend kompensieren. Der Staat ist einerseits schwach und andererseits stark, eben über den metaphysischen Überschuss – oder über Zwang und Ausgrenzung.

Und Letzteres erleben wir gerade: Neben der “Verschärfung” der Asylgesetze, was praktisch einer Abschaffung des grundlegenden Menschenrechts gleichkommen soll, sind Rechte für die Behörden geplant, die alle bisherigen Vorstöße in der BRD übertreffen. Wer die Kontrollen am Riebeckplatz kennt, wird den Vergleich nachvollziehen können: Es ist geplant, den Staat zu einer einzigen Waffenverbotszone zu machen, in der nicht etwa vordringlich Waffen verboten werden, sondern die Polizei überall nach diesen (und anderen vermeintlichen Gefahren wie Gabeln und Ladendiebstählen) suchen darf. Stark frequentierte Straße und Plätze sollen mit anlasslosen Kontrollen überzogen werden, Kameraüberwachung natürlich inklusive, ebenso wie die Überwachung im Internet. Die soll jetzt technisch auf den neuesten Stand gebracht werden, was Gesichtserkennung mit KI und Erstellung biometrischer Profile bedeutet; Vorratsdatenspeicherung meets ChatGPT.

Protest dagegen gibt es kaum. Der Glaube an nationale Abschottung und an einen durchgreifenden Staat macht wohl auch fromm. Und so werden die Mittel genau dort hineingesteckt. Niemand weiß mehr, bei welcher Asylrechtsverschärfung wir gerade sind. Niemand weiß, wie SPD, Grüne und FDP gestoppt werden sollen, wenn das gerade die Parteien sind, die sich in der Opposition am stärksten als “Bürgerrechtsparteien” inszenieren. Aber trotzdem ist es notwendig, den Plänen zu widersprechen und dagegen eine Perspektive für ein soziales Gemeinwesen zu setzen.

Dieses soziale Gemeinwesen ist ein sozialistisches, ob man es so nennen will oder nicht. Und schon Bebel, der für seine damalige SPD schon gegen das ein oder andere “Sicherheitspaket” des Kaiserreichs kämpfen musste, war klar, dass genau so das autoritäre Problem zu lösen ist:

“Die Hunderttausende ehemaliger Repräsentanten des Staates treten in die verschiedensten Berufe über und helfen mit ihrer Intelligenz und ihren Kräften, den Reichtum und die Annehmlichkeiten der Gesellschaft vermehren. Man wird künftig weder politische Verbrechen und Vergehen noch gemeine kennen. Die Diebe sind verschwunden, weil das Privateigentum verschwunden ist und jeder in der neuen Gesellschaft leicht und bequem seine Bedürfnisse durch Arbeit befriedigen kann. Auch "Stromer und Vagabunden" existieren nicht mehr, sie sind das Produkt einer auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaft, und sie hören auf zu sein, sobald dieses fällt. Mord? Weshalb? Keiner kann am anderen sich bereichern, auch der Mord aus Haß oder Rache hängt direkt oder indirekt mit dem Sozialzustand der Gesellschaft zusammen. Meineid, Urkundenfälschung, Betrug, Erbschleicherei, betrügerischer Bankrott? Das Privateigentum fehlt, an dem und gegen das diese Verbrechen begangen werden konnten. Brandstiftung? Wer soll daran Freude oder Befriedigung suchen, da die Gesellschaft ihm jede Möglichkeit zum Hasse nimmt. Münzverbrechen? "Ach, das Geld ist nur Schimäre", der Liebe Müh' wäre umsonst. Religionsschmähung? Unsinn; man überläßt dem allmächtigen und allgütigen Gott zu bestrafen, wer ihn beleidigt, vorausgesetzt, daß man sich noch um die Existenz Gottes streitet. So werden alle Fundamente der heutigen "Ordnung" zur Mythe. Die Eltern erzählen später den Kindern davon wie aus alten märchenhaften Zeiten. Und die Erzählungen von den Hetzereien und Verfolgungen, womit man einst die Männer der neuen Ideen überschüttete, werden ihnen genauso klingen, als wenn wir von Ketzer- und Hexenverbrennungen hören. Alle die Namen der "großen" Männer, die mit ihren Verfolgungen gegen die neuen Ideen sich hervortaten und dafür von ihren beschränkten Zeitgenossen mit Beifall überschüttet wurden, sind vergessen und stoßen höchstens dem Geschichtsforscher auf, wenn er in alten Werken blättert. Leider leben wir noch nicht in den glücklichen Zeiten, in welchen die Menschheit frei atmen darf.”


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kipping: Grundeinkommen schafft keine "Insel der Glückseligen"

Harz-Mensa: Öffnen oder zurücktreten!

Solardarity für Rojava!