Ihr wollt nicht ärmer werden?

In diesem und im letzten Jahr wurde in vielen Branchen gestreikt, um nicht noch weitere Reallohnverluste hinnehmen zu müssen. Und das hat – in Grenzen – sogar geklappt: 2023 sind die Reallöhne „annähernd gesichert“ (1) geblieben, wie am Ende letzten Jahres verlautbart wurde. Einschränkend muss man sagen, dass sie sich damit auf einem erschreckend niedrigen Niveau stabilisiert haben, denn durch Inflation und Austeritätspolitik waren die Löhne 2022 um vier Prozent real gesunken, auch 2021 und 2020 gab es ein Minus von 0,1% bzw. 1,1%.

Diese Stabilisierung, also die Verhinderung einer weiteren Verarmung, die 2023 aber nichtsdestotrotz etliche Bereiche getroffen hat, wurde u.a. durch die Streiks im öffentlichen Dienst, bei der Post und im Logistik- und Verkehrsbereich ermöglicht. Auch für 2024 wird die Statistik wahrscheinlich nur durch die Streiks gerettet.

Es ist bezeichnend, dass aber nicht auf diese Art über die Streiks diskutiert wird, sondern ganz anders: Der grüne Wirtschaftsminister Habeck findet, es gäbe „zu viele Streiks“ und er warnt vor „wirtschaftlichen Schäden“ (2). Die kommunalen Arbeitgeber*innen in Form ihrer SPD-Präsidentin Karin Welge sehen die Streiks als „überzogen“ an und bangen um das Ansehen Deutschlands. CDU-MdB Julia Klöckner sieht dagegen gleich „alle Bürger in Geiselhaft“ genommen, natürlich machen auch Freie Wähler, FDP und CSU beim Streik-Bashing mit (3). Die faschistische AfD greift etwa im Landtag von NRW gleich die Strukturen der Gewerkschaften an (4), sie gelten ihr als „zu links“.
Aber auch jenseits von Sonntagsreden gibt es ernsthafte Erwägungen, das Streikrecht einzuschränken. Die Rechten sind begeistert, die Konservativen und Liberalen sind dafür, SPD und GRÜNE werden sich auch bitten lassen.

Und dabei geht es nicht darum, dass mit den Streiks und Tarifverhandlungen tatsächlich ein Plus gemacht worden wäre. Fast niemand hat heute mehr in der Tasche als vor ein paar Jahren – einfach, weil die Reallöhne vorher gesunken sind und auch im letzten Jahr nur das Minus verhindert wurde. Trotzdem stellen sich Kommentator*innen, Arbeitgeber*innen-Verbände und Politiker*innen hin und verlangen, dass die Leute (insbesondere die „Gen Z“) mal ihre Anspruchshaltung überdenken sollten – es ist im Kapitalismus schließlich kaum zu rechtfertigen, nicht ständig ärmer zu werden.

Das letzte Jahr zeigt also, wie gering die Spielräume im Kapitalismus sind, wenn die Krise ansteht und wie schnell über Grundrechte hinweggegangen werden soll. Gerade deshalb ist es gut und wichtig, dass gestreikt wurde. Und es zeigt, dass die Idee, mit „maßvollen Streiks“ und Verhandlungen etwas zu erreichen, nicht aufgehen kann – denn auch kleinste Erfolge werden schon massiv bekämpft und schon ein kleines erkämpftes Plus unter dem Strich würde dazu führen, dass Verzichtsappelle schnell in handfeste Gegenwehr umschlagen.

Wenn die DGB-Gewerkschaften, und das wollen sie ja auf jeden Fall, also in diesem und im nächsten Jahr ein Plus erkämpfen wollen, dann muss die Zurückhaltung abgelegt werden, gegenüber den Chef*innen und gegenüber der Bundes- und den Landesregierungen. Dafür gilt es an diesem ersten Mai ein Zeichen zu setzen – keine Kompromisse mit dem Kapital!
Jugenddemo in Halle: ab 11 Uhr vom Steintor aus

Verweise:

(1)  https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/realeinkommen-tarifloehne-inflation-kaufkraft-100.html
(2)    https://www.fr.de/politik/arbeitslohn-kritik-habeck-wirtschaft-streiks-bahn-gdl-arbeitsstunden-92890112.html
(3)    https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kritik-am-warnstreik-das-streikrecht-wird-inflationaer-ausgereizt-a-19b0ce4f-3e65-4463-8be7-efeb487f028c
(4)    https://www.ksta.de/politik/nrw-politik/streit-um-streiks-nrw-afd-greift-die-gewerkschaften-an-und-erntet-massive-kritik-751804


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